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... von uns


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Wunder passieren täglich.

In der Hoffnung auf Wunder sind die Erwartungen meistens gewaltig. Und genau das ist
das Problem. Außergewöhnliche Ereignisse, deren Wirkung nicht an die Messlatte
einer Wiederauferstehung oder mindestens einer Fischvermehrung heran reicht, werden nicht
als Wunder wahrgenommen. Denken wir uns an das Thema doch mal von der anderen
Seite heran. Einmal angenommen, es würden sich tatsächlich täglich Wunder um uns
herum ereignen, und wir würden sie nur nicht als solche begreifen? Im täglichen Stress
entgeht vieles unserer Aufmerksamkeit. In der Hetze der Gedanken bleiben wir meist auf uns
und die Abarbeitung des Tagespensums konzentriert. Würde direkt neben uns ein
Mensch plötzlich aus dem Nichts erscheinen – wir würden den Vorgang nicht bemerken.
Es müsste sich schon um ein Objekt von der Größe eines Elefanten handeln.
Tatsächlich erscheinen täglich dutzende von Menschen wie aus dem Nichts neben uns ...
oder wissen wir etwa immer genau, woher sie kommen?

Noch geringfügigere Ereignisse bleiben von uns völlig unbeachtet. Etwa der sonst so
stille Nachbar, der uns unvermittelt begrüßt, oder der Sachbearbeiter, der unser Anliegen
sofort bearbeitet. Allein im Angesicht der täglichen Überflutung mit Reizen, Anforderungen
und Pflichten hat die Theorie, dass Wunder Opfer unserer nachlässigen Wahrnehmung
sind, schon Bestand. Zudem akzeptieren wir immer mehr Errungenschaften als völlig
normal – obwohl wir die wenigsten davon tatsächlich erklären können. Die Funktionsweise
eines Telefons zum Beispiel, ein Gegenstand aus unserem täglichen Gebrauch. Wir nutzen
es ständig und selbstverständlich, aber können wir wirklich beschreiben, wie und warum es
das tut was es tut?

Wunder sind dazu da, beachtet zu werden und den Glauben an Gott, das Universum, die
Liebe und den einen Geist zu festigen. Dazu sind wir jedoch nur in der Lage, wenn wir
Wunder auch als solche wahrnehmen. Vielleicht wollen wir einmal versuchen, unsere
Ansprüche an Wunder zu reduzieren. Versuchen wir außerdem, einen Moment
lang wissenschaftliche Erklärungen außer acht zu lassen. Sehen wir uns stattdessen einfach
um, erfassen dabei nur die Objekte in der nächsten Umgebung und stellen uns zu jedem
die unschuldige Frage, was es tut und warum das so ist. Was genau lässt die Pflanze
wachsen? Was genau macht Glas durchsichtig? Was genau lässt uns fühlen? Ist nicht
unsere gesamte Existenz, das Leben an sich, die Wirklichkeit um uns herum, voller Wunder?

Man könnte es ein Problem der aufmerksamen Wahrnehmung nennen, dass uns die Fähigkeit,
die Dinge zu schätzen wie sie sind, verloren gegangen ist. Vor allem betrifft dies die
meisten Ereignisse, die wir selbst anziehen. Würden wir gedankenvoller damit umgehen,
würden wir vielleicht unsere gesuchten Wunder wirklich erleben. Und es würde sich dabei
nicht um „blaue“ Wunder handeln. Nehmen wir den jungen Erwachsenen, der in seine
erste eigene Wohnung zieht. Eines der ersten Wunder, das er erlebt ist: Teleportation
existiert nicht. Alles bleibt dort liegen, wo es liegen gelassen wurde, und taucht nicht im
nächsten Moment gereinigt und wohlgeordnet im Kleiderschrank oder Küchenregal wieder
auf. Die Wahrnehmung seiner Existenz erweitert sich um das Thema „Selbst aufräumen“.
Ähnlich ergeht es uns, wenn wir meinen, unsere Freiheit wiedererlangen zu müssen und
dafür unsere Partnerschaft beenden. Wir stellen im Nachhinein die Schönheit des Wunders
einer Beziehung fest. Und kommen immer wieder zur Erkenntnis: Es wäre klug gewesen, hätten
wir das Ereignis geschätzt, als es sich noch in unserer Gegenwart befand. Wunder
bestimmen unseren Alltag. Wenn wir sie beachten leben wir glücklicher.